Wer sich früher für politische Randgruppen interessiert hat oder auf der Suche nach sexuellen Kontakten war, hat das meist im Verborgenen getan – heutzutage wird er nicht selten Fan einer entsprechenden Facebook-Seite und offenbart diese Information damit mehr als einer Milliarde Facebook-Nutzern (wie Günter Exel in diesem Beitrag zu den Möglichkeiten der Graph Search wunderbar aufzeigt). Die öffentliche Reaktion darauf läuft nach dem immer gleichen Schema ab: Der Social-Media-Laie reagiert mit einem entsetzten Aufschrei, ruft nach dem Datenschutz, sieht seine Privatsphäre gefährdet und denkt über den „Austritt aus dem Internet“ nach. Der Social-Media-Experte weist den Laien wahlweise auf seine Eigenverantwortung hin oder plädiert für flächendeckende Medienkompetenz-Schulungen, weil der Laie das ja nun wirklich alles nicht wissen könne, wo doch wir Experten schon kaum…
Aus meiner Coaching-Ausbildung weiß ich, dass das zunächst vom Klienten genannte Thema oftmals nicht das ist, worum es wirklich geht – bei dieser Diskussion scheint es ganz ähnlich zu sein. Geht es hier denn tatsächlich um Datenschutz und Privatsphäre? Ist die von Günter Exel ausgesprochene Empfehlung „Säubern Sie Ihre gesamte Facebook-Historie von peinlichen oder kompromittierenden Aktivitäten und Likes!“ wirklich die einzig logische Reaktion auf die zunehmende Prominenz von Privatpersonen? (Denn letztlich geht es uns allen mehr und mehr wie dem typischen Promi: Wir können keinen Schritt mehr unternehmen, ohne dabei beobachtet zu werden.) Lautet die logische Konsequenz nicht eher: Säubern Sie Ihr LEBEN von peinlichen oder kompromittierenden Aktivitäten und Likes?
Wenn Sie bei etwas nicht erwischt werden wollen: Lassen Sie es. Oder fragen Sie sich, warum Sie nicht öffentlich dazu stehen wollen. Können Sie sich bei allem, was Sie tun, morgens vor dem Spiegel noch in die Augen schauen? Könnte Ihr Handeln „in zwei Meter großen Lettern auf dem Rathausplatz“ Ihrer Heimatstadt veröffentlicht werden (wie Michael Rajiv Shah in seinem Beitrag zur Angst vor Transparenz fragt)?
In diesem Sinne leisten Netzwerke wie Facebook einen Beitrag zu verstärkter Authentizität. Was früher die soziale Kontrolle durch den Nachbarn im Dorf war, übernehmen nun Mark Zuckerberg und Co. – wer ihren Konsequenzen entgehen möchte, kann sich entweder der Social-Media-Welt verweigern oder sein Verhalten den eigenen (nicht fremden!) moralischen Standards anpassen. Wer den Hintern in der Hose hat, für sein Verhalten einzustehen und dessen Konsequenzen zu tragen, braucht Social Media nicht zu fürchten.
9 Kommentare. Leave new
Liebe Constanze,
vielen Dank fürs Aufgreifen des Themas, das bereits Kreise zieht. Um die Frage der Brandstifterin zu beantworten: Nein – Säuberungsaktionen sind keineswegs die einzig logische Reaktion. Für viel wichtiger halte ich die anderen drei Empfehlungen, die ich vor der genannten vierten ausspreche:
– Werden Sie sich bewusst, dass soziale Netzwerke niemals rein privat sind!
– Überlegen Sie sich, welches Bild Sie der Öffentlichkeit vermitteln wollen: Welche Interessen, Stärken und Überzeugungen wollen Sie öffentlich vertreten? Welche sollen privat bleiben?
– Betreiben Sie Reputations-Management: Schärfen Sie Ihre Profile in sozialen Netzwerken im Hinblick auf das Profil, das Sie in der Öffentlichkeit vertreten können und wollen!
Wie ich schon auf Facebook sagte: Ich selbst verstehe mich (und alles, was ich poste) schon seit Jahren als öffentlich – was die Voraussetzung ist, um auch im Web authentisch zu sein. Wenn man internationale Maßstäbe anlegt, ist aber genau dieses Bewusstsein in Deutschland und Österreich extrem gering ausgeprägt. Hier sind wir wohl alle einer Meinung, dass Bewusstseinsarbeit und Medienerziehung schon in den Schulen wichtige Schritte wären – Schritte in Richtung zu mehr Authentizität.
Da kann ich dir ja nun überhaupt nicht zustimmen. Es besteht nämlich durchaus die Möglichkeit, dass ich Dinge, die ich tun möchte, durchaus mit meinem eigenen Gewissen vereinbaren kann,aber nicht mit der herrschenden Moral. Da ich aber die herrschende Moral nur eingeschränkt verändern kann, gleichzeitig aber als soziales Wesen ihrem Diktat ausgesetzt bit, kann das verfolgen meiner Wünsche im Geheimen durchaus ein Weg sein.
Das bedeutet aber meiner Meinung nach nicht, dass ich auf Facebook und Twitter verzichten müsste, auch nicht zum Verfolgen meiner geheimen Wünsche. Mag sein, dass jemand in den Rechenzentren von Facebook meine Chatdialoge mitlesen kann oder ein Twitterprogrammierer meine DMs. Das ist, als ob die Jungs von der Müllabfuhr in meiner Papiertonne wühlen. Können Sie natürlich, aber werden sie das tun? Und wenn ja? Ich bin eben doch nicht prominent, und deshalb bin ich diesen Müllwühlern egal.
Wieso hätte ich bloß darauf gewettet, dass du nicht meiner Meinung bist, Jörg? 😉 Es lebe die Diversität!
Ich bin der festen Überzeugung, dass ich die „herrschende Moral“ nur verändern kann, indem ich mit meiner Überzeugung an die Öffentlichkeit trete – oder das System verlasse, mit dessen Moral ich mich dauerhaft nicht identifizieren kann. Und – ob gewollt oder ungewollt – macht es so ja auch die große Gruppe der Social-Media-Laien, die entweder aus dem System aussteigt oder sich der Öffentlichkeit preisgibt.
Danke für diese klaren Worte, liebe Constanze!
In meinen Workshops zum Thema Social Media gebe ich ergänzend noch folgenden Rat: „Posten Sie nie etwas, was Sie nicht auch LAUT im Supermarkt an der Kasse sagen würden. Denn dieser Bereich ist ein kleiner Mikrokosmos, der nach den selben Regeln funktioniert wie das große Facebook: Hier sind Leute versammelt, die Sie kennen. Welche, die Sie schon mal gesehen haben. Oder welche, von denen Sie nicht wissen, dass Sie dort bekannt sind. Und auch viele, die Sie nicht kennen und auch nie kennenlernen werden!“
Wer also in Social Media nicht in Fettnäpfchen oder schlimmeres treten möchte, muss sich nur für einen kurzen Moment an die Supermarktkasse versetzen und nachdenken ;o)) Und schon weiß man ganz genau, was man posten kann und was man besser lassen sollte …
Ganz genau. Und ich gehe eben noch einen Schritt weiter: TUN Sie nie etwas, was Sie nicht auch laut an der Supermarktkasse sagen könnten. Was wäre die Welt für ein Ort…
Liebe Constanze,
wieder mal gebe ich Dir recht, mit allem was Du schreibst. Auch hat Herr Friedrich recht mit dem was er sagt, allerdings sehe ich in solchen Fällen noch stärker die Verantwortung des Users gefordert, entsprechend zu agieren. Für die Gedankenlosigkeit aller anderen ist meine Hoffnung schon lange verloren.
DENNOCH…das ist die Gegenthese, wo fängt Freiheit an und wo hört sie auf. Inwiefern können Menschen mit Freiheit umgehen und sie bewusst nutzen oder als Selbstverständlichkeit ansehen doch sich nicht darum kümmern?
Rufen wir nach Gesetzen? Oder doch nach Freiheit?
Weil wir hier jeden einzelnen in der Verantwortung sehen, sieht die Masse (der Betroffenen?) es nicht. Sie fordern Maßnahmen, zumindest wenn plötzlich was mit den gesammelten Daten geschieht. Kommen diese Gesetze dann mit Einschränkungen der Freiheit…ob es dann allen recht ist?
Wer hat nun das Recht dieses oder jenes vorzuschreiben.
Ein Problem der „freien Welt“…
„Den Raum für Freiheit zu schaffen ist Aufgabe der Politik. Die Freiheit selbst zu verwirklichen, ist Sache aller und eines jeden.“
(Karl Theodor zu Guttenberg 1921-1972)
Was du hier beschreibst, lieber René, ist genau die von mir erwähnte Zweiteilung: Üblicherweise wird entweder an die Eigenverantwortung des Users plädiert oder nach Regulation gerufen. Mir geht es aber gerade um einen dritten Ansatz: eine zunehmende Verschiebung hin zu mehr Authentizität. Wenn wir alle so agieren, dass wir jederzeit dabei erwischt werden können, gibt es nichts zu befürchten und nichts zu regulieren.
Herrlicher Initiatortag … Constanze!
Wie ich schon schrieb: „Es ist erstaunlich, dass ein ‚Hacker‘ wie Zuckerberg ein so grosse Rolle bekommen hat“ im kollektiven Ringen um die Verbindung/Vernetzung von Allem mit Allem und Trennen von Nichtauthentischem durch Authentisches.
Sie beschreiben recht gut ein Phaenomen, das ich Breiten – oder Volksvoyerismus nenne, Sprich die Tuer ist nun offen fuer all die E – Z-Promis, die dieser Welt in erster Linie ihre „Anwesehnheit“ in einem Medium welches en vogue ist, beweisen moechten. Mit Inhalt, gar gedanklichen und Authetzitaet hat das nicht viel zu tun. Dies liegt einmal an der Anonymitaet des Mediums und zum anderen, soweit ich das beobachte, an der voelligen Orientierungslosigkeit vieler Beteiligter. Wie Sie sehr richtig feststellen kommen Klienten sehr selten sofort mit dem eigentlichen Problem rueber, ich denke das Gleiche gilt fuer das tatsaechliche Anliegen auf FB oder anderen Plattformen present zu sein. Die Idee das eigene Profil, nach evtl. „verwerflichen Inhalten“ zu durchforsten, macht die ganz Absurditaet dieses Mediums klar, was ja mal mit der Idee antrat „Freunde“ und Gleichgesinnte zu vernetzen; uberiggeblieben ist im Kern nur der Vertrieb und die Kommerzialisierung von Benutzerprofilen und die Selbstdarstellung. Ist das wirklich ein Fortschritt ?